Kurze Geschichte der Wolfenbütteler Hofkapelle

 

Die große Zeit der Wolfenbütteler Hof-Musik begann im Jahr 1587 mit Thomas Mancinus (alias Menckin, 1550-1611/12), als Herzog Julius den Kapellmeister seines Sohnes, des damaligen Bischofs von Halberstadt und späteren Herzogs Heinrich Julius, mit der Neugründung der Hofkantorei beauftragte. Mancinus' Besoldung war allerdings so schlecht, dass er noch einiges Geld als Kanzleischreiber hinzuverdienen musste und ab 1591 auch noch das Amt eines Bischöflich Halber­städtischen Kapellmeisters zusätzlich versah. Mancinus hat die Kantorei in Wolfenbüttel bis zu seiner Pensionierung 1604 geleitet und durch solide handwerkliche Arbeit die Voraussetzungen für das Wirken seines Nachfolgers Michael Praetorius geschaffen. Noch im Ruhestand war sein Einkommen so knapp bemessen, dass er es mit der Tätigkeit eines Verwalters der herzoglichen Bibliothek aufbessern musste. Er starb 1611 oder 1612 in seinem Geburtsort Schwerin.

Sein Nachfolger wurde Michael Praetorius (alias Schultheiß, 1571-1621), der, wie Mancinus, zeitweise im Dienst des Bischofs von Halber­stadt gestanden hatte. Er wurde im Jahre 1604 zum Kapellmeister am Wolfenbütteler Hof ernannt. Nach dem Tod Herzog Heinrich Julius' im Jahre 1613 wirkte er zusätzlich auch als Kapellmeister am Hof zu Dresden, worunter die Wolfenbütteler Hofkapelle zusehends litt. Vorschläge zu ihrer Reorganisation wurden vom Sohn des Herzogs, dem amusi­schen Herzog Friedrich Ulrich, nicht nur nicht umgesetzt, sondern Praetorius' Bestallung wurde 1620 kurzerhand auch nicht mehr verlängert.

Michael Praetorius war einer der herausragenden deutschen Musikerpersönlichkeiten zwischen Reformation und 30jährigem Krieg. Sein Werk liegt in der ab 1928 erschienenen Gesamtausgabe der musikalischen Werke von Michael Praetorius vor. Es umfasst neben haupt­sächlich evangelischer Kirchenmusik, z.B. Choralbearbeitungen (Musae Sioniae) und lutherischer Liturgie (Missodia Sionia), auch weltliche Musik (Terpsichore) und theoretische Schriften: Sein Syntagma musicum ist eine der wichtigsten Quellen zur Aufführungspraxis jener Zeit und bis heute ein zentrales Werk zur Instrumentenkunde. Wesentlichen Anteil hatte Praetorius an der Planung und Ausführung sowohl einer zwischen 1605 und 1610 von Esaias Compenius erbauten Kammerorgel (heute Schloss Frederiksborg) als auch der großen Fritzsche-Orgel in der Hauptkirche BMV in Wolfenbüttel. Unter letzterer wurde er 1621 laut Kirchenbuch beigesetzt.

Glücklicherweise bedeutete Praetorius' Tod nicht auch gleichzeitig das Ende der Hofkapelle. Vielmehr wurde Daniel Selichius (alias Selich, 1581-1626), der bei Herzog Philipp Sigismund, einem Onkel des Wolfenbütteler Herzogs und Bischof von Verden und Osnabrück, als Kapellmeister Dienst tat, von diesem nach Wolfenbüttel empfohlen. Hier wirkte er nur fünf Jahre und starb 1626 an der Pest. Danach wurde die Hofkapelle aufgelöst, denn mit der Einnahme der Festung Wolfen­büttel durch Christian IV. von Dänemark im selben Jahr und der späteren Besetzung durch kaiserliche Truppen war kein Raum mehr für Hofmusik: Der 30jährige Krieg hatte nun auch Wolfenbüttel endgültig erreicht.

Selichius hinterließ ein umfangreiches Werk, das bereits zu seinen Lebzeiten und im gesamten 17. Jahrhundert weit ver­breitet war. Vieles davon ist leider verschollen, sein bekanntestes Werk aber, das opus novum, Geistlicher Lateinisch u. Teudscher Concerten u. Psalmen Davids, in erster Auflage 1624 in Wolfenbüttel gedruckt, blieb erhalten.

Im Jahre 1634 starb Herzog Friedrich Ulrich kinderlos, und mit ihm endete das Mittlere Haus Braunschweig. Erst nach lange andauernder Klärung der Erbfolge und nach Abzug der Kaiserlichen Truppen wurde der in Dannenberg geborene und in Hitzacker residierende Herzog einer Nebenlinie Regent in Wolfenbüttel: Herzog August der Jüngere, Gelehrter, Biblio­philer und Gründer der nach ihm benannten Bibliothek. Seinen Kapellmeister, Johannes Schultz (1581-1653), ließ er in Dannenberg zurück.

Bereits 1638, ein Jahr nachdem Herzog August zum Regenten bestimmt worden war, aber zunächst in Braunschweig auf den Abzug der Kaiserlichen Truppen warten musste, wurde mit Stephan Körner (?-1685) ein neuer Hofkapellmeister ernannt. Von ihm, der schon unter Michael Praetorius als Instrumentalist und Sänger in der Hofkapelle gedient hatte, wurde erwartet, dass er vor allem - bei nur geringen Unkosten natürlich - die fürstliche Kirchen- und Tafelmusik in einem repräsentativen Rahmen besorgte. Tatsächlich war die Kapelle nach dem Einzug Herzog Augusts in seine Residenz Wolfenbüttel am 13. September 1643 bereits wieder auf 15 Musiker, darunter 7 Trompeter, angewachsen. Höhepunkt der musikalischen Darbietungen in Braunschweig unter Körners Leitung war die Aufführung des von der Herzogin Sophie Elisabeth, Herzog Augusts dritter Ehefrau, komponierten Festspiels Neu erfundenes FreudenSpiel genandt FriedensSieg im Jahre 1642. Ob Körner selbst nennenswerte Kompositionen geschaffen hat, ist nicht belegt. 1644 wurde er aus un­be­kannten Gründen entlassen.

Herzogin Sophie Elisabeth (1613-1671), Enkelin Herzog Moritz' von Hessen, der selbst komponierte und ein besonderer Förderer der Musik war, fand an dessen Hof zwei Jahre lang Zuflucht, als sie als 16jährige vor dem 30jährigen Krieg aus ihrer Heimat fliehen musste. Es besteht kaum ein Zweifel, dass sie in Kassel eine besondere Förderung ihrer hohen musikalischen Begabung erfuhr. Als 21jährige heiratete sie den 56jährigen Herzog August, der bereits zweimal verwitwet war, und wurde in Wolfenbüttel eine tatkräftige Förderin der Musik. Das gelang ihr insbesondere durch die Unterstützung von Heinrich Schütz (1585-1672). Wie aus Briefen zwischen Schütz und der Herzogin hervorgeht, beriet er den Hof seit 1644 in Angelegenheiten des Wiederaufbaus der Hofkapelle und wurde 1655 sogar offiziell Oberkapellmeister "von Haus aus". Er gab Ratschläge, engagierte Musiker und Sänger, lieferte Noten seines eigenen Schaffens nach Wolfenbüttel und empfahl sogar einen persönlichen Schüler als Kapellmeister an den Hof: Johann Jakob Löw von Eisenach.

Johann Jakob Löw (1629-1703), keinesfalls adlig, war der Sohn eines in Eisenach geborenen Diplomaten, der in Diensten Dänemarks und vieler deutscher Fürstentümer, auch des braunschweigisch-lüneburgischen, am Kaiserhof in Wien tätig war. Er hatte sich das Prädikat "von" wahrscheinlich als Herkunftsbezeichnung selbst zugelegt. Löw war bereits in Wien ein bekannter Violinvirtuose. Sein kompositorisches Schaffen war umfangreich und geprägt von dem freien, italienischen Stil, den er in Wien kennengelernt hatte: er schuf Suiten, Vokalwerke, Opern und geistliche Konzerte. Finanziell war er weniger erfolgreich. Nach einem Streit mit dem Herzog um die Höhe seines Honorars verließ er Wolfenbüttel - nach nur 8 Jahren Dienst am Hofe. Als er 1703, nach einem un­ruhigen Leben, als Organist in Lüneburg starb, hinterließ er eine bettelarme Witwe und sechs Kinder.

Julius Johann Weiland (um 1605-1663), gebürtiger Braunschweiger, war ein enger Freund und Vertrauter Löws und sein Stellvertreter in der Hofkapelle. Aus dieser Zeit als Vizekapellmeister stammen eine Reihe von großen, oft mehrchörig besetzten geistlichen Vokalwerken. Diese meisterhaft gearbeiteten geistlichen Kompositionen stehen zwar formal noch in der Tradition eines Heinrich Schütz, durch ihre Frische und Vituosität verraten sie jedoch eine individuelle und bis heute höchst wirkungsvolle Gestaltungskraft. Weiland wurde jedoch nicht der Amtsnachfolger Löws, denn er starb im selben Jahr, in dem dieser Wolfenbüttel verließ.

Nachfolger wurde vielmehr Martin Colerus (alias Köler, um 1620-1703/04). Auch er kam, ähnlich wie Löw, mit seinem Geld nicht aus, so daß er gegen Ende des Jahres 1666 seine und die Kleider seiner Frau verpfänden mußte. Im gleichen Jahr starb Herzog August und der neue Herzog Rudolf August löste bereits nach einem Jahr Regentschaft die Hofkapelle auf. Colerus wurde entlassen. Fast zwanzig Jahre lang sollte es nun in Wolfenbüttel keine Hofkapelle mehr geben. Erst als im Jahre 1685 Herzog Anton Ulrich zum Mitregenten seines Bruders ernannt worden war, wurde auch die Frage der Neu­gründung einer Hof­kapelle wieder akut.

Herzog Anton Ulrich, Sohn Herzog Augusts aus zweiter Ehe, hatte, bevor er Mitregent wurde, viel Zeit auf Reisen verbracht. Sie führten ihn u.a. nach Venedig, das er zwischen 1680 und 1686 mit oder ohne Familie allein viermal besuchte. Dort lernte er Johann Rosenmüller (1617-1684) kennen, der als "Maestro di coro" am Ospedale della Pietà wirkte. Dieses Ospedale war eines der vier führenden Konservatorien der Lagunenstadt und Rosenmüller wohl einer der prominentesten Musiker und Komponisten seiner Zeit. Die Berufung Rosenmüllers als Hofkapellmeister nach Wolfen­büttel war Ausdruck des Ehrgeizes und des Einflusses, den Herzog Anton Ulrich schon vor seiner Ernennung zum Mit­regenten in allen kulturellen Angelegenheiten des Hofes zeigte. Der Berufung vorausgegangen war die Veröffentlichung von Rosenmüllers letztem Sonatenwerk, das er 1682 in Nürnberg hatte drucken lassen und Herzog Anton Ulrich widmete. An Rosenmüllers Übersiedlung nach Wolfenbüttel im Jahre 1682 waren sicherlich Erwar­tungen geknüpft: Das Schloss Salzdahlum war im Bau, ebenso das Opernhaus am Hagenmarkt in Braunschweig. Da liegt es nahe zu vermuten, dass der Herzog weniger an Kirchenmusik dachte als an eine Kapelle, zugeschnitten auf die Bedürfnisse des Opernbetriebs. Ob Rosenmüller diesen Erwartungen entsprechen konnte oder wollte, bleibt offen. Sollte er nicht der Komponist der 1684 in Salzdahlum aufgeführten Oper Der beständige Orpheus sein, wäre sein gesamtes kom­po­si­torisches Werk in Leipzig bzw. in Venedig entstanden. Rosenmüller starb 1684 und wurde in der St. Johannis-Kirche in Wolfenbüttel bei­gesetzt.

Geeigneter als Notenlieferant für den Opernbetrieb erschien dagegen Johann Theile (1646-1724), der in Hamburg am Gänsemarkt-Theater bereits erfolgreich eigene Opern aufgeführt hatte. Er wurde 1685 der Nachfolger Rosenmüllers. In welchem Umfang Theile Musik für die Theateraufführungen im 1688 errichteten neuen Opernhaus in Wolfenbüttel bei­steuerte, ist unklar; wahrscheinlich war er jedoch der Komponist von Anton Ulrichs Singspiel Davids und Jonathans treuer Liebe Beständigkeit. Theile genoß unter seinen Zeitgenossen einen hervorragenden Ruf als Kom­po­sitionslehrer und war der Verfasser eines lange Zeit maßgeblichen Lehrbuchs über die Technik des Kontrapunkts. Messen und Motetten machen den Großteil seines erhaltenen Schaffens aus. Bekannt ist vor allem seine Matthäus-Passion, deren mehr­strophige "Arien" zu den frühesten Beispielen für Einfügungen in die Passionsdarstellung gehören, die nicht auf Bibel- oder Choraltexte zurückgreifen.

Theile verließ Wolfenbüttel im Jahre 1690 nach nur 5jährigem Dienst. Ihm folgte in das Amt des Hofkapellmeisters Johann Sigismund Kusser, einer der renommiertesten Vermittler französicher Opermusik seiner Zeit. Er war aber weniger in Wolfen­büttel als in Braunschweig am Hagenmarkt-Theater tätig, das im Jahr seiner Anstellung eröffnet wurde. Damit endete die über 100jährige Tradition der Wolfenbütteler Hofkapelle, jedenfalls soweit sie in Wolfenbüttel ihren Platz hatte.

 

Literatur:

Heinz Grunow, "Das große Zeitalter Wolfenbütteler Musik", Schriften zur Heimatkunde 19, Hrsg. Verkehrsverein Wolfen­büttel, 1983

Carsten Niemann, "Die Kapellmeister am Hof zu Wolfenbüttel im Überblick", in: Ruhm und Ehre durch Musik, Bei­träge zur Wolfenbütteler Hof- und Kirchenmusik während der Residenzzeit, Wolfenbüttel 2013.